in Engpassorientierung, Erfolgskriterien, Methoden

Ashby’s Gesetz ist keine gute Leitlinie für die Praxis

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Immer wieder und in verschiedenen Kontexten wird W. Ross Ashby’s „Gesetz der erforderlichen Vielfalt“ zitiert und ich habe noch nie einen Widerspruch vernommen. Ich habe Ashby’s Buch „Einführung in die Kybernetik“ schon vor langer Zeit gelesen und viel daraus gelernt. Das so viel zitierte Gesetz (Kapitel 11/6) hat mich natürlich damals sehr beeindruckt und überzeugt. Aber bald hatte ich mit den daraus gezogenen Schlussfolgerungen meine Probleme und diese wurden immer größer.

Warum ist das wichtig und vor allem, was hat das mit unseren konkreten Herausforderungen beim Management von Projekten zu tun? Ich meine, dass die Schlussfolgerungen ausgesprochen irreführend sind und dass damit der Erfolg von Projekten gefährdet wird. Es ist also nicht nur mein ganz persönliches Verständnisproblem, es geht um gravierende praktische Konsequenzen.

Beginnen wir an der Quelle. Ashby bezieht sich auf die Spieltheorie und er beschreibt die Situation zweier Spieler R und D. Wenn D einen Spielzug macht, muss R entscheiden, mit welchem Spielzug er entgegnet. Die Anzahl der möglichen Spielausgänge hängt nun davon ab, wie groß die Anzahl möglicher Spielzüge von D ist und wie weit es R gelingt, diese Vielfalt zu reduzieren, so dass idealerweise nur die Ergebnisse eintreten, in denen er der Sieger ist. Wenn immer nur ein Ausgang möglich ist, egal was D tut, wo wäre die Vielfalt der Ergebnisse auf ihr absolutes Minimum reduziert, nämlich auf 1. Wenn R zwei verschiedene Spielzüge zur Verfügung hat, so kann er die Vielfalt der Ergebnisse bestenfalls auf die Hälfte der Möglichkeiten reduzieren. Das Gesetz lautet: „Wenn also die Vielfalt in den Ergebnissen auf eine festgelegte Zahl oder auf einen festgelegten Bruchteil von D’s Vielfalt verringert werden soll, dann muss R’s Vielfalt zumindest auf das notwendige Minimum ansteigen. Nur Vielfalt in R’s Zügen kann die Vielfalt der Ergebnisse senken“. Und einige Absätze weiter der Satz, den alle zitieren: „Nur Vielfalt kann Vielfalt zerstören“.

Dass der letzte Satz so nicht zutreffen kann, sollte eigentlich sofort auffallen. Nehmen wir eine Fliege als Beispiel, die einen komplizierten Kurs fliegt. Es genügt ein gezielter Schlag mit der Fliegenklappe (eine Aktion mit sehr geringer Komplexität), um die Bewegungsvielfalt der Fliege ein für allemal zu zerstören. Das Beispiel werden manche als hanebüchen klassifizieren, aber es bringt uns auf den entscheidenden Punkt. Wollten wir die Vielfalt der Positionen der Fliege relativ zu uns reduzieren, so müssten wir genau so beweglich sein wie die Fliege und ihr auf dem Fuß folgen. Wenn man also im gleichen Regelwerk agiert wie das Gegenüber (um von der unglücklichen Fliege zu abstrahieren), dann gilt Ashby’s Gesetz. Wenn aber ein Spieler das Paradigma wechselt, verliert es seine Gültigkeit.

Das Gesetz der erforderlichen Vielfalt gilt, wenn alle innerhalb des gleichen Ziel- und Regelsystems agieren. Auch das Ziel des Spieles ist wichtig. Nehmen wir ein reales Spiel wie Tennis oder Fußball. Im Tennis gibt es immer einen Sieger und einen Verlierer, im Fußball kann es auch ein Remis geben. Akzeptiert man die Maximierung der Anzahl an Siegen und die Minimierung der Anzahl an Niederlagen als Ziel, so ist die Vielfalt der Ergebnisse drastisch reduziert. Erfolge im Fußball sind sowohl mit einem komplexen Kurzpassspiel möglich (Tiki-Taka, wir erinnern uns an die Erfolge des FC Barcelona) wie auch mit einer Defensivstrategie (Catenaccio, damit war Inter Mailand einst sehr erfolgreich). Tiki-Taka wird man wohl eher mit dem Attribut „Vielfalt“ assozieren, nur kann man diese Vielfalt mit einer deutlich weniger vielfältigen Spielweise „zerstören“, wie seit einiger Zeit empirisch zu beobachten ist.

Nun aber genug der Analogien, wenden wir uns unserem Handlungsfeld zu. Würde man Ashby’s Gesetz so interpretieren, wie es alle mir bekannten Business-Autoren tun, dann müsste ein komplexes, durch Vielfalt an möglichen Ergebnissen gekennzeichnetes Projekt durch eine entsprechend komplexe Projektorganisation bewältigt werden. Bleiben wir kurz in der Terminologie von Ashby: Ein komplexes Projekt ist durch eine Vielfalt an Einflussfaktoren und Ergebnissen (einschließlich aller relevanten Zwischenergebnisse) gekennzeichnet. Dem begegnet man durch eine komplexe Projektorganisation (Matrix ist da immer eine gute Idee), eine Vielzahl an genau definierten Arbeitspaketen, detaillierte Terminpläne mit Meilensteinen, Abhängigkeitsmatrizen, Risikokatalogen, Controllingreports etc. etc. Erkennt man Abweichungen vom Plan, so wird darauf mit noch komplexeren Strukturen und Prozessen reagiert, denn: Nur mit Komplexität kann man Komplexität beherrschen (wenn wir das irreführende Wort zerstören ersetzen).

Aber: Damit tappen wir doch genau in die Falle, die Paul Watzlawick in seiner „Anleitung zum Unglücklichsein“ so treffend beschrieben hat: „Mehr desselben“. Er sieht darin „eines der erfolgreichsten und wirkungsvollsten Katastrophenrezepte, das sich auf unserem Planeten im Laufe der Jahrmillionen herausgebildet und zum Aussterben ganzer Gattungen geführt hat (S. 28)“.

Ich habe es schon so oft erlebt: Werden die Termine nicht gehalten, wird die Terminplanung verfeinert und das Controlling ausgebaut. Einmal musste ich, als Krisenmanager kurzfristig eingesprungen, zweimal pro Woche die Einhaltung von ca. 50 Detailterminen reporten, zum Arbeiten blieb entsprechend weniger Zeit. Erst nach einigen Wochen gelang es mir, das auf einmal pro Woche zu reduzieren und nach einigen Zwischenerfolgen konnten wir auf zweiwöchige Iterationen umstellen, über deren Ergebnis berichtet wurde. So kamen wir auch zum Erfolg. Wir haben also auf die Vielfalt der Projektherausforderungen (viele Termine hielten nicht oder konnten nicht garantiert werden) mit einer Reduktion der Komplexität reagiert. Luhmann hat ausführlich dargelegt, dass genau die Reduktion von Komplexität die entscheidende kulturelle Leistung darstellt. Angesichts des erdrückenden Umfangs seiner Publikationen möchte ich hier auf ein Schlüsselwerk verweisen, wo er Vertrauen als Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität darstellt. Für unseren Kontext gilt z.B., dass Vertrauen in die Kompetenz des Projektteams eine deutliche Reduktion der Kontrollmechanismen erlaubt und umgekehrt.

Betrachten wir agile Vorgehensmodelle, so fällt auf, dass diese deutlich weniger komplex organisiert sind als klassisch geführte Projekte. Die fixe Taktung von Iterationen, das Herunterbrechen der gesamten Arbeitslast auf eine Backlog-Liste von User-Stories, der Verzicht auf Erfolgskontrollen durch Bekanntgabe von Fertigstellungsgraden (anstatt dessen dient die Auslieferung von funktionierender Software am Ende jeder Iteration als einzig relevantes Fortschrittsmaß) sind Beispiele für radikale Vereinfachungen. Dabei sind aber gerade agile Vorgehensmodelle geschaffen worden, um Projekte abzuwickeln, die sich durch hohe Komplexität (Moving Target) auszeichnen. Der Erfolg gibt ihnen recht. Die Erfolgsrate großer Softwareprojekte ist bei Anwendung agiler Methoden deutlich höher als bei „klassischen“ Vorgehensmodellen, umso mehr, je größer (und damit wohl auch komplexer) das Projekt. Das ist der klare Befund der Standish Group. Hier dazu die Grafik (leider schwer lesbar), mehr und besser lesbar dazu hier:

Zusammengefasst: Auf Komplexität der Aufgabenstellung kann man mit erhöhter Komplexität der Projektorganisation reagieren. Das ist allerdings keine gute Idee. Besser ist es, dieser Komplexität mit einfachen, aber wirkungsvollen Strukturen zu begegnen. Das kann Scrum als besonders unkomplexe, weil streng vordefinierte Abwicklungsmethode sein. Es kann XP sein, mit einer besonders einfachen Intervention: Lasse Anwender und Techniker direkt zusammenarbeiten. Es kann auch Lean, Kanban oder DSDM sein. Dazu habe ich in einem anderen Blogpost eine Übersicht mit Linkliste gegeben.

Ist Ashby’s Gesetz also falsch? Nein! Mit Ashby’s Gesetz verhält es sich genau so wie mit den Gesetzen der Physik. Das Fallgesetz etwa besagt, dass eine Feder und eine Bleikugel gleich schnell zu Boden fallen. Im Alltag können wir dieses Phänomen nicht beobachten, denn das Gesetz gilt so nur im absoluten Vakuum. Ashby’s Gesetz gilt nur innerhalb eines geschlossenen Regelsystems mit fixen Zielgrößen. Das wird bei den gängigen Schlussfolgerungen, die für die Praxis gezogen werden, übersehen. Das wiederum führt zu negativen Konsequenzen. Keep it simple ist auch eine zu undifferenzierte Empfehlung; es kommt darauf an, eine geeignete Vereinfachung zu finden. Agile Vorgehensmodelle sind dafür ein Beispiel.

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Kommentar

17 Kommentare

  1. Leider stimme ich Ihnen nicht zu.
    Ich nehme als Ausgangspunkt das Cynefin-Modell https://de.wikipedia.org/wiki/Cynefin-Framework. Hier ist sauber zwischen *kompliziert* und *komplex* zu unterscheiden: Im Komplizierten lässt sich planen, im Komplexen nicht. Daher adressieren auch verschiedene Vorgehensweisen die beiden Kontexte: Projektmanagement adressiert den *komplizierten* Kontext, agile Vorgehensweisen den *komplexen*. Damit sind dann beide auch nicht vergleichbar …
    Ja, Sie haben Recht: Ashby’s Law ist nur auf *komplexes* anwendbar. Und genau da brauchen wir es auch: Wir wollen komplexe Aufgaben lösen. Dazu brauchen wir Vorgehensweisen, die eine höhere Komplexität haben als die Aufgabe (Ashby’s Law). Genau das sind agile Vorgehensweisen: Komplex! Ein Minimum an Rahmen verbunden mit Selbstorganisation. Und das funktioniert gut, wo es passt. Agilität passt eben nur im *komplexen*.

    • Schöner Artikel, und ich musste beim Lesen gerade auch an das Cynefin-Modell und die in dem Fall (und allgemein) sehr wichtige Unterscheidung zwischen komplizierten und komplexen Domänen denken.
      Danke für die Anregung, dass Komplex auf der einen Ebene, auf einer anderen nicht auch komplex bedeuten muss. Und ja, ich pflichte absolut bei, dass Ashbys Gesetz und viele andere Ideen und Konzepte aus dem systemischen Denken zu oft zu schnell auf alles und jeden als Patentlösung übertragen werden.

    • Ich stimme Ihnen voll zu. Das Cynefin-Modell ist ein hilfreicher Schlüssel für derlei Fälle. Danke für die ansprechende Zusammenfassung.

  2. Für ein besseres Verständnis von Ashby’s Gesetz: Vielleicht hilft es, „zerstören“ durch „absorbieren“ zu ersetzen (Übersetzungen sind immer heikel …) und bei den praktischen Beispielen den Unterschied zwischen komplex und kompliziert zu berücksichtigen. Die komplexesten Control-Systems sind oft die einfachsten (vgl. Kreisverkehr). Und beim Fussball ist das Wichtigste, ebenfalls 11 Spieler auf dem Platz zu haben, denn wenn einer eine rote Karte kriegt, wird es schwierig … Ich schlage vor, sich für das Praktische im Management mehr mit Stafford Beer als mit Luhmann zu befassen.

  3. Ein bisschen schade, dass dieser Artikel bei mir das dritte Google-Ergebnis für „Ashby’s Gesetz“ ist, und der Autor den Begriff „komplex“ unsachgemäß verwendet und seine eigene Argumentation damit ad absurdum führt. Ashby’s Gesetz liegt mit seiner Aussage absolut richtig und ist auch sehr praktikabel anwendbar, die Trennung zwischen komplex und kompliziert muss nur vom Anwender sauber vorgenommen werden… und genau das ist das Problem, das sich durch alle Management-Ebenen zieht.

    • Ich habe nicht den Eindruck, dass Herr Barnett den Artikel wirklich gelesen haben, so pauschal und undifferenziert ist die Kritik. Diese Unterscheidung von komplex und kompliziert (Ashby spricht übrigens von „variety“, die deutsche Übersetzung von Vielfalt) ist ja sehr beliebt, klingt immer sehr klug, ist in diesem Fall aber eine Themenverfehlung. Ich habe Komplexität im Sinne Luhmanns verwendet, was daran unsachgemäß ist, bleibt das Geheimnis von Herrn Barnett. Aber ich freue mich über die Mitteilung, dass dieser Artikel so gut gerankt ist (wusste ich nicht) und weiß es zu schätzen, dass Herr Barnett es der Mühe wert gefunden hat, diesen zu kommentieren. War ein Anstoß, wieder einmal darüber nachzudenken.

      • Ich weiß Ihre Antwort zu schätzen und gebe zu, dass meine Antwort zu undifferenziert (und zu kurz) war, um von inhaltlichem Wert zu sein.
        Speziell störe ich mich nicht direkt an ihren Definitionen, sondern an dem Beispiel der Projekte, auf denen ihre Kritik an Ashbys These aufgebaut hat. (Und ja die Übersetzung ist ein guter Punkt, allerdings hatte man sich damals vielleicht auch noch nicht so sehr auf die Begriffe geeinigt wie heute? Ich gehe in meinen Definitionen übrigens eher nach Bar-Yam.)

        Hier, also bei der Kritik im angeführten Beispiel, kommt die — möglicherweise ausgetretene — Unterscheidung von kompliziert und komplex genau zum Tragen, da das zusätzliche Controlling (mehr Meetings, noch kleiner portionierte Subtasks zur minutengenauen Überwachung) eben keine Anpassung der Komplexität darstellt, sondern eine Erhöhung der Kompliziertheit, die aber eben der Komplexität trotzdem nicht gerecht wird und eben alles noch schlimmer macht. Die komplexen Ansätze sind simpler, beispielsweise die Mitarbeiter selber kommunizieren und anschließend entscheiden lassen, und dadurch die kollektive Intelligenz der Organisationsstruktur zu erhöhen.

        Insofern hat Ashby dann schon recht mit seinem Theorem, und Sie haben auch recht, wenn Sie sich darüber beschweren, dass es in der Praxis oft missverstanden (aber wer weiß schon wie er es wirklich gemeint hat) wird und dann durch komplizierteres Controlling alles noch schlimmer ist.

        Meinen Glückwunsch zum guten Google-Ranking; ich hätte mir allerdings an dieser Stelle einen guten und differenzierten Beitrag gewünscht, der Ashby’s Gesetz überhaupt erstmal verständlich und anschaulich erklärt, damit ich den weitergeben kann… und den habe ich leider nicht gefunden.

        • Hallo nochmals, jetzt lese ich gerade Bar-Yam (danke für den Tipp, kannte ich nicht). Was ich dort allerdings feststelle, unterstützt meine Thesen. Ein Zitat: „..simple models … can be used to understand seemingly mysterious phenomena …“ (S. 25). Und im ganzen Buch finde ich keine Unterscheidung von komplex und kompliziert (obwohl das Wort complicated oft gebraucht wird). Ich stelle fest, dass dieses Buch viele Gedanken beinhaltet, die ich schon in vielen Büchern gelesen und in mein Denken integriert habe, so z.B. „Gödel, Escher, Bach“ und „Metamagicum“ oder „Baum der Erkenntnis“ oder „Zielbewusste Systeme“ oder „Die Konstruktion von Erkenntnissystemen“ oder „Simple Heuristics that make us smart“. Meine erste Reaktion, mein Statement über Ashby’s Gesetz in Frage zu stellen habe ich damit verworfen, bin stärker denn je überzeugt, dass mein Blogartikel korrekt und relevant ist. Aber danke für die Zweifel, war anregend und weiterführend!

  4. Mal ein paar theoretische Überlegungen zu dem Themenkomplex:

    Aus der praktischen Erfahrung weiß man, dass es im gesamten Leben (nicht nur in Projekten und im Management, sondern auch bei fachlicher Arbeit, Privatleben usw.) immer mehr zu erledigen gibt, als man im Leben schaffen kann. Es gibt beliebig viele Möglichkeiten, sich zu verzetteln. Aber woran liegt das? Ist es die Komplexität des (abgeschlossenen) Systems? Oder haben wir es mit offenen Systemen zu tun? Ist die Komplexität wirklich unendlich oder ist sie zwar endlich, aber zu groß, um sie in einem (!) Leben bewältigen zu können? Mich würde mal interessieren, ob es dazu empirische Studien oder sogar mathematische Beweise (Kybernetik) gibt.

    Man bekommt in der Praxis oftmals die Empfehlung, sich auf die wesentlichen Dinge zu konzentrieren (Priorisierung). Diese Empfehlung wird häufig mit dem Pareto-Prinzip untermauert. Aber gibt es eigentlich eine theoretische Rechtfertigung dafür, warum Pareto auf die Systeme des Alltags anwendbar ist? Dazu finde ich nichts. Gibt es hierzu empirische Studien oder theoretische Überlegungen?

    • Ich bezweifle, dass man auf diese Frage eine Antwort vom Typ eines mathematischen Beweises geben kann. Empirisch zeigt sich aber doch immer wieder, dass Aufwand und Effekt je nach Aktion in unterschiedlicher Relation stehen. Ob das wirklich 80:20 ist, wird wohl variieren, aber auch 60:40 wäre noch bedenkenswert. Priorisierung und Fokussierung scheinen mir unbestreitbare Hebel für Erfolg zu sein.

  5. Hallo Herr Friedrich,
    Danke für diesen Artikel zu Komplexität im Projektmanagement, er hat mich sehr zum Nachdenken gebracht. Ich möchte gerne eine Interpretation anbieten, die Ashby’s Law unterfüttert und unterstützt und freue mich auf ihre Meinung dazu:

    Wenn Sie vom Aufbau einer möglichst komplexen Projektorganisation sprechen, meinen Sie „eine Vielzahl an genau definierten Arbeitspaketen, detaillierte Terminpläne mit Meilensteinen, Abhängigkeitsmatrizen, Risikokatalogen, Controllingreports etc.“. Das alles sind aus meiner Perspektive jedoch keine Maßnahmen, die Komplexität oder „Varietät“ erhöhen, sondern versuchen, diese absichtsvoll zu reduzieren, in dem versucht wird, die Anzahl der möglichen Zustände eines Projekts zu reduzieren.

    Das beste Beispiel sind eng definierte Prozesse, Gantt-Charts und Terminpläne, die helfen sollen, durch ihre bloße Festschreibung auf dem Papier die Komplexität in der realen Welt beherrschbar zu machen, in dem nur noch EIN Prozess und nur noch EINE Abfolge von Arbeitsschritten möglich sein soll. Somit wird also versucht, die Vielfalt möglicher Zustände einzugrenzen – Komplexität zu strukturieren, reduzieren, zu vereinfachen, indem die Komplexität in ein lineares Vorgehensmodell gepresst wird.

    Und wir sehen ja, dass dieses klassische Projektmanagement in komplexen Settings an seine Grenzen stößt.

    Die Idee der agilen Fraktion mit Scrum u.ä. weiß eine Antwort: die Anzahl der strukturgebenden Faktoren minimal halten, um möglichst viel Varietät bei den Akteuren zu erhalten: Innerhalb eines Sprints ist das Team an keinerlei Prozesse oder Vorgaben gebunden, wer wann mit wem was zu tun hat, etc… Das Projekt-Team kann also frei agieren und somit sämtliche realisierbare Möglichkeitsräume betreten und ausfüllen – Varietät erzeugen, erhalten und nutzen. Es gilt hier also: Durch minimale Vorgaben wird Varietät im Handeln und in der Interaktion erhalten, die wiederum ermöglicht, komplexe Herausforderungen zielgerichtet zu bearbeiten.

    Was denken Sie – resoniert diese Interpretation bei Ihnen?
    Freundliche Grüße
    Peter

    • Hallo Peter, der Darstellung von Agilität kann ich zustimmen, nur unterstützt das nicht die üblichen Interpretationen des Ashby-Gesetzes. Das Gesetz selbst ist ja korrekt, nur ist es ähnlich wie die Fall-Gesetze der Physik für die Erklärung und Gestaltung von Prozessen des realen Lebens nicht unmittelbar aussagekräftig. Mein Punkt ist, dass man mit einem geeigneten, deutlich einfacherem Paradigma bessere Erfolge erzielen kann als mit einem deutlich komplizierteren. Ausführlich, theoretisch fundierter und empirisch untermauert stellt das Gerd Gigerenzer in seinem Buch „Simple Heuristics that make us smart“ dar. Das Regelwerk eines agilen Projektes ist deutlich einfacher als das eines klassischen Projektes, umso mehr als es zwischen verschiedenen Projekten wenig Unterschied macht, während bei klassischen Projekten viel in ein spezifisches Setup investiert wird. Trotzdem ist gerade agiles Projektmanagement besser geeignet, mit komplexen (VUCA-)System fertig zu werden.

      • Hallo Herr Friedrich,
        durch die Veröffentlichung der englischen Übersetzung bin ich nochmal auf ihren Artikel gestoßen und möchte gerne nochmal auf ihre Antwort reagieren:

        Ich stimme ihnen voll zu: „Das Regelwerk eines agilen Projektes ist deutlich einfacher als das eines klassischen Projektes“. Es lässt mehr Freiraum/Freiheitsgrade/Varietät/a.k.a. Komplexität in der Vorgehensweise zu und erlaubt deshalb besser auf die Komplexität der VUCA Welt zu reagieren, bspw. auf sich Ändernde Anforderungen, Umweltbedingungen etc… Meiner Meinung nach ist das 1 zu 1 Ashby: Die Komplexität der VUCA Welt kann nur durch hohen Freiraum/Freiheitsgrade/Varietät/a.k.a. Komplexität in der Vorgehensweise absorbiert werden. Wenn wir uns ein Gantt-Chart malen und das stoisch durchexerzieren, können wir eben nicht dynamisch auf VUCA reagieren. Wir brauchen Varität im Projekt-Vorgehen. Komplexität absorbiert Komplexität.
        Meiner Meinung nach ist ihre Schlussfolgerung/Argumentation im Artikel deshalb nicht überzeugend. Für mich ist Ashby immer noch ein geeignetes theoretisches Fundament für die Veragumentierung von agilen Ansätzen in VUCA Bedingungen.

        Ein dicker Wälzer, den ich hierzu nur empfehlen kann: Fredmund Malik: Strategie des Managements komplexer Systeme: Ein Beitrag zur Management-Kybernetik evolutionärer Systeme

        Beste Grüße
        Peter

        • Hallo Peter, danke für den Beitrag. Ich glaube, dass meine Schlussfolgerung offenbar nicht angekommen ist. Das liegt sicher auch an meinem etwas reißerischen Titel, aber ich wollte Aufmerksamkeit wecken und dazu braucht es ein wenig Zuspitzung. Ich bezweifle ja nicht die Gültigkeit von Ashby’s Gesetz der erforderlichen Varietät an sich. Es ist nur genauso wenig eine direkte Handlungsanleitung für die Praxis wie es das Fallgesetz nicht ist. Feder und Bleikugel fallen in der Praxis nicht gleich schnell zu Boden, außer wir sind im Vakuum des Weltraums. Und ebenso ist die Schlussfolgerung, dass der Komplexität einer Aufgabenstellung, die in einem Projekt zu lösen ist, mit einem vergleichbar komplexen Vorgehensmodell zu begegnen ist, wie es die übliche Schlussfolgerung aus Ashby’s Gesetz oft (oder sogar meist) ist. Im Gegenteil, mit sehr generischen Prozessen, wie sie agile Vorgehensweisen propagieren erzielt man bessere Erfolge. Nun kann man argumentieren, dass in den generischen Vorgehensweisen die Komplexität des Universums verborgen ist (so hat mir ein geschätzter Kollege zu meinem Fliegenbeispiel geantwortet), aber damit verlieren wir endgültig jeden handlungsanleitenden Praxisbezug. Malik kenne ich, er hat die Rechte an der EKS (Engpasskonzentrierten Strategie nach Wolfgang Mewes erworben) und dort wird auch gezeigt, wie mit relativ einfacher Logik gerade komplexe (also VUCA-Bedingungen) erfolgreich gemeistert werden können. Ob das in diesem Buch so gesagt wird, weiß ich nicht (mehr). Ich halte viel von Gerd Gigerenzers Simple „Heuristics That Make Us Smart“ (https://amzn.to/40U2OT4).

          • Hallo Gerhard, wir hatten ja über eine ähnliche Frage schonmal diskutiert 😉
            Ich kann mittlerweile nachvollziehen, dass Ashby’s Gesetz in der praktischen Anwendung oft zu Problemen führt und dementsprechend als generische Handlungsanweisung à la IKEA-Anleitung abgelöst werden sollte.
            Du schreibst: „Und ebenso ist die Schlussfolgerung, dass der Komplexität einer Aufgabenstellung, die in einem Projekt zu lösen ist, mit einem vergleichbar komplexen Vorgehensmodell zu begegnen ist, wie es die übliche Schlussfolgerung aus Ashby’s Gesetz oft (oder sogar meist) ist.“
            Ich bleibe allerdings bei dem Punkt, dass hier bei den Anwender:innen von Ashby’s Gesetz lediglich die Unterscheidung zwischen „komplex“ und „kompliziert“ fehlt. Natürlich kann man über Nomenklatur streiten (wir diskutierten darüber bereits), aber der Unterschied bleibt!
            Komplexe Systeme brauchen kein kompliziertes Regelwerk, sondern funktionieren meist nach ganz einfachen (generischen, agilen, …) Spielregeln; die Komplexität entsteht allein schon aus der Vielfalt der Akteure. Wer dann versucht ein Gantt-Chart in die Realität zu prügeln, hat diesen Unterschied einfach nicht begriffen, egal wie man ihn nennt.
            Man könnte der generischen Weisheit von Ashby’s Gesetz noch einen Hinweis hinzufügen, z. B. „Komplexität bedeutet im Übrigen nicht, dass es eine 500-seitige Verordnung zur Einfuhr von Karamellbonbons braucht, in der für alle möglichen Sonderfälle vorgesorgt ist.“… Wenn man es schafft, das in wenigen Worten einigermaßen verständlich rüberzubringen, dann ist Ashby’s Gesetz meiner Meinung nach wieder eine ganz hervorragende Faustregel.

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  • Please leave the Corona waiting room – Get out before the digital revolution is over! | MachinaTrader.com 9. Oktober 2020

    […] In Enjoy Projects the author Gerhard Friedrich writes: “If one were to interpret Ashby’s law as all business authors I know do, then a complex project characterized by a variety of possible outcomes would have to be managed by a correspondingly complex project organization. If one recognizes deviations from the plan, then one reacts with even more complex structures and processes, because: According to Ashby, complexity can only be mastered by complexity. But: This is exactly the kind of trap that Paul Watzlawick so aptly described in his “Instructions for Unhappiness“: “More of the same“. […]