in Agilität, Citizen Development, IT Governance, Software-Engineering

Do it yourself – ist Citizen Development die Lösung für den Mangel an IT-Entwicklern?

Der Mangel an Ressourcen für die Umsetzung von IT-Anforderungen ist mittlerweile in allen Branchen angekommen. Dass dieser Engpass nicht kleiner, sondern immer größer wird, ist ebenfalls unbestritten. Initiativen zur Behebung des Problems erfolgen bisher vor allem auf Unternehmensebene, dabei geht es allerdings nur darum, den eigenen Engpass zu Lasten anderer Marktteilnehmer zu reduzieren.

Was hat das mit meiner neuesten Zertifizierung (siehe Bild oben) zu tun? Dazu muss ich doch ein wenig ausholen. Ich denke nämlich, dass es sich lohnt, diesem Thema etwas Zeit zu widmen.

Arbeitsmarkt, wir haben ein Problem

Der steigenden Nachfrage nach IT-Fachkräften steht kein ausreichendes Angebot gegenüber. Es ist klar, dass Handlungsbedarf auf der Angebotsseite besteht. So soll das Gesamtangebot an IT-Fachkräften durch verstärkte Werbung für technische Berufe und die gezielte Ansprache von noch nicht ausgeschöpften Potenzialen (z.B. Frauen) gesteigert werden. In Österreich wurde auch ein neuer Lehrberuf (Applikationsentwickler – Coding) eingeführt, um Personen anzusprechen, für die ein Studium – zumindest als Berufseinstieg – nicht in Frage kommt.

Augen zu und durch?

Wie immer man es auch dreht, es ist klar: es wird nicht reichen. Noch kann in Europa durch Offshoring (Auslagerung von Entwicklungsleistungen in Schwellenländer wie z.B. Indien) oder Nearshoring (Auslagerung vorwiegend in östliche Nachbarstaaten) ein gewisser Ausgleich geschaffen werden. Es ist allerdings absehbar, dass diese Ländern früher oder später diesen qualifizierten Arbeitskräften im eigenen Land hinreichend attraktive Jobangebote machen können, was ja auch wünschenswert ist. Zudem steht Europa hier im globalen Wettbewerb und ist gegenüber Silicon Valley, Israel und anderen Regionen, die schon lange in diese Branchen investieren, ins Hintertreffen geraten.

Machen wir einfach die Augen zu und hoffen, dass es schon irgendeine Lösung geben wird, auch wenn wir keine Ahnung haben, wie diese aussehen könnte? Das ist keine Strategie, auf die man ernsthaft setzen kann, auch wenn es ganz so aussieht. Niemand kann allerdings seriös die Frage beantworten, wie der Bedarf an Entwicklern unter den gegebenen demografischen und technologischen Rahmenbedingungen abgedeckt werden soll.

Ein Paradigmenwechsel ist notwendig

Es liegt daher nahe, das Problem auch von der Nachfrageseite anzugehen. Hier setzt eine Initiative des Project Management Instituts (PMI) unter dem Titel „Citizen Development“ an. Ich finde diese Bezeichnung nicht besonders glücklich, weil man bei diesem Begriff eher an Bürgerinitiativen als an Softwarenentwicklung denkt. Technisch gesehen geht es um den Einsatz von Low-Code- bzw. No-Code-Plattformen, die es Anwendern ermöglichen, Anwendungen zur Gänze oder zumindest überwiegend selbst zu entwickeln. Die Technologie ist ein Faktor von vielen, die über den Erfolg entscheiden, daher ist die Verwendung eines untechnischen Begriffs sicher sinnvoll; man gewöhnt sich auch bald daran, kann ich aus eigener Erfahrung berichten.

Microsoft investiert massiv in diese Technologien und berichtet, dass weltweit mehr als 500.000 Unternehmen derzeit (2021) bereits Low-Code-Tools von Microsoft nutzen, darunter 97 Prozent der Fortune 500-Unternehmen. Gartner erwartet, dass Low-Code-Technologien bis 2025 bei rund 70 Prozent der Entwicklungen von Unternehmensanwendungen eingesetzt wird und dass die Zahl der aktiven Citizen Developer bis 2023 viermal so hoch sein wird wie die Zahl professioneller Entwickler.

Citizen Development und die Zusammenarbeit von Business und IT

Die Zusammenarbeit von Anwendern und Technikern ist ein Thema, dass mich seit den Anfängen meiner Berufslaufbahn begleitet. Allein schon deshalb, weil ich als Psychologe schon bald in einem technischen Umfeld gearbeitet habe. Zuerst an einem interdisziplinären Forschungsschwerpunkt der TU Wien und der ETH Zürich, dann in Beratungsunternehmen, wo ich damals der einzige Sozialwissenschaftler unter lauter Technikern und Betriebswirten war.

Meine Vorträge bei Fachkongressen widmeten sich daher nicht zufällig Fragen wie: „Die Pflichten des Anwenders bei Prototyping und Rapid Application Development“ (1993) oder „Ist IT Chefsache? Wie geht das Business-Management mit IT um“ (2008). In einer breit angelegten Initiative von österreichischen CIOs und internationalen Beratungsunternehmen fiel mir die Aufgabe zu, das Human Resource Management in IT-Organisationen zu beleuchten (2004).

Agilität war implizit immer meine Leitlinie, ab 2010 habe ich agile Vorgehensmodelle nicht nur praktiziert, sondern auch in Vorträgen und Publikationen propagiert. Dabei habe ich mich immer für undogmatische Vorgangsweisen ausgesprochen und habe in meinen Projekten Elemente von Scrum, Kanban und Extreme Programming je nach Kontext und Bedarf kombiniert. Die Kommunikation und Kooperation von Anwendern und Informatikern in unterschiedlichen Ausprägungen ist mein ureigenstes Betätigungsfeld und daher engagiere ich mich gerne für die professionelle Umsetzung dieses Ansatzes. Die von PMI angebotenen Zertifizierungen haben meine positive Einstellung bestätigt und eine Reihe von interessanten Anregungen mit sich gebracht.

Technologie als Enabler von Citizen Development

Untypisch für einen Psychologen und Projektmanager habe ich allerdings auch zu den technologischen Aspekten des Citizen Developments langjährige persönliche Erfahrung. In den frühen 90-ger-Jahren hatte ich eine Software für das Produktmanagement von Versicherungen konzipiert und in Kooperation mit der Generali-Versicherungsgruppe und einem deutschen Softwarehaus 1995 auf den Markt gebracht. Daraus entstand das Produkt VP/MS, das auch heute noch weltweit bei zahlreichen Versicherungsunternehmen im Einsatz ist, wenn ich selbst auch seit 1999 nach dem Verkauf an ein internationales Softwareunternehmen (heute Teil von DXC) keinen direkten Bezug mehr dazu habe.

Die Idee dieses Produktes war es, Fachabteilungen von Versicherungen zu ermöglichen, das Regelwerk und die Berechnungslogik von Versicherungsprodukten selbst zu implementieren, anstatt es in einem Pflichtenheft zu dokumentieren und auf dessen mehr oder minder korrekte Umsetzung zu setzen. Auslöser dafür war die Erfahrung, dass es zwischen den Fachbereichen (meist Aktuare) und der IT regelmäßig zu Kommunikationsproblemen kam und diese zu langen Durchlaufzeiten und hohem Test- und Korrekturaufwand führten.

Was ich damals konzipierte, war eine Business Rule Engine mit einem Definitionsarbeitsplatz, dessen User-Interface hinsichtlich seiner technischen Komplexität mit Excel zu vergleichen war. Die Gestaltung des User-Interface orientierte sich an einer kundenorientierten und daher nicht-technischen Sicht auf das Versicherungsprodukt. Dank eines genialen Entwicklerteams auf Seiten des technischen Kooperationspartners konnte aus dieser Produktdefinition Code erzeugt werden, der die gesamte Produktlogik den Anwendungssystemen gekapselt zur Verfügung stellte. Informatiker benötigten keine detaillierte Auseinandersetzung mit der Berechnungs- und Prüflogik verschiedener Produkte, sondern integrierten das „Produktmodell“ mittels einer generischen Schnittstelle in die verschiedenen Anwendungssysteme.

Die praktische Anwendung zeigte, dass mit dieser neuen Aufgabenverteilung zwischen Anwendern und IT eine enorme Reduktion des Gesamtaufwandes erzielt werden konnte. Zusätzlich wurde die IT von Aufgaben entlastet, die nicht zu deren Kernkompetenz gehören.

An diesem Fallbeispiel wird deutlich, dass Citizen Development und klassische, professionelle Softwareentwicklung kein Gegensatz sind, sondern nur in einer sinnvollen Verschränkung und gegenseitigen Ergänzung zum Erfolg führen können. Für mich zeigte diese Erfahrung aber auch, dass Technologie und Vorgehensmodelle einander beeinflussen. Technologie ist auch kein beliebig austauschbares Element, sondern ermöglicht bzw. erfordert adäquate Vorgehensmodelle, wenn man den Erfolg sichern will.

Mehr über den Nutzen von Business Rules Engine habe ich schon 2014 hier publiziert.

Citizen Development und Governance

PMI sieht in seinem Framework für Citizen Development (kurz: CD) die Governance als die zentrale Herausforderung. Die Akzeptanz von CD leidet tatsächlich daran, dass man auf Seiten der IT einen Wildwuchs von Anwendungen befürchtet. Die gefürchtete „Schatten-IT“, früher z.B. in Form von Access-Datenbanken, heute durch Cloud-Services, die Anwender ohne Abstimmung mit der IT nutzen, könnte durch Citizen Development einen neuen Aufschwung erleben.

PMI hingegen sieht CD als ein Instrument, um die Schatten-IT zurückzudrängen. Dazu ist allerdings ein disziplinierter Umgang mit den Potenzialen der Low-Code/No-Code-Plattformen (kurz: LCNC) entscheidend.

PMI unterscheidet 3 Varianten der Umsetzung, je nach technischer Komplexität und Risiko, wie folgende Grafik zeigt (© PMI):

Grundlage der Entscheidung ist eine strukturierte und obligate Analyse von Vorhaben, die in Abstimmung mit der IT und für diese völlig transparent geschehen muss. Während in der Variante „Fast track“ Citizen Developer weitgehend eigenständig arbeiten, sind sie in der Variante „IT Delivery“ Teil eines von der IT geführten Projektes. Bei „Assisted“ liegt der Ball zwar bei den Citizen Developern, die IT ist jedoch regelmäßig zur Unterstützung oder auch zu Reviews und bei Entscheidungen mit technischen Implikationen einbezogen. PMI bietet zu allen relevanten Kriterien nützliche und qualitativ hochwertige Templates, die nicht nur bei CD-Projekten eingesetzt werden können.

Achtung: Das Imperium schlägt zurück

Die oben beschriebene Business-Rule-Engine VP/MS erforderte jedenfalls ein Vorgehensmodell „IT Delivery“, allerdings nur bei der Integration des gekapselten Produktmodells in die Zielsysteme. Die damals erlebten Hürden der Akzeptanz dieses Lösungsansatzes gelten auch für Citizen Development. Die IT sah vielfach die Zusammenarbeit mit „Laien“ als belastend, manche empfinden diese auch als Konkurrenz oder fürchten, sie könnten den Mythos der Software-Entwicklung entzaubern und damit das Prestige des Software-Ingenieurs beschädigen. „Das Einzige was stört, ist der Anwender“, diesen Vortragstitel habe ich 2006 nicht zufällig gewählt.

In einigen Unternehmen mussten wir hilflos zusehen, wie die IT die Fachbereiche schrittweise aus der Projektarbeit verdrängte und VP/MS als Entwicklungsplattform für Techniker nutzte. Damit ging ein Großteil der Effizienzgewinne wieder verloren.

Unternehmen, die das Potenzial dieses Ansatzes verstanden, bauten ein eigenes Skill-Profil auf Seiten der Fachbereiche auf. Die Gesamtmigration aller IT-System der Generali Versicherung anlässlich der Euro-Einführung konnte z.B. durch die parallele Arbeit von VP/MS-Modellierern und klassischen Entwicklern innerhalb der unverhandelbaren Terminsetzung umgesetzt werden. Übrigens gibt es auch heute noch Stellenanzeigen für „VP/MS-Modellierer“.

Die Erfolgsfaktoren von Citizen Development

Ich sehe Citizen Development (CD) als eine – mehr oder minder neue – Option für die Gestaltung der Zusammenarbeit von Business und IT. Die Erfolgsfaktoren dafür sind dieselben wie sie generell gelten. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass ein Unternehmen ohne agile Kultur damit Erfolg haben kann.

CD ist am ehesten mit Extreme Programming (XP) vergleichbar und ich meine, dass man viel von den mit XP gewonnenen Erfahrungen profitieren könnte. Damit ließe sich CD auch in ein agiles Framework wie SAFe integrieren, wo ja auf Projektebene Scrum, Kanban und XP wahlweise eingesetzt werden können.

Generell ist die Zusammenarbeit von Business und IT der alles entscheidende Erfolgsfaktor im Zeitalter der Digitalisierung. Mehr dazu habe ich im Kapitel 10 meines Buches „12 Halbwahrheiten über IT-Projekte“ geschrieben. Tragen Sie sich in meine Mail-Liste ein und Sie bekommen sofort dieses Kapitel meines Buches als Download.

Sehr interessante und detaillierte Präsentationen gibt es hier bei PMI Austria.

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