Was ist Vertrauen?
Vertrauen ist die Grundlage erfolgreicher Arbeit in agilen Projekten, das wird immer wieder betont. Ich meine, es ist überhaupt die Grundlage für jede Art der erfolgreichen Zusammenarbeit, ob in Linienfunktionen oder in Projekten, unabhängig von Inhalt und Vorgehensmodell.
Ich finde nach wie vor die Definition von Julian Rotter aus dem Jahr 1967 am prägnantesten. Er bezeichnet Vertrauen als „generalisierte Verhaltenserwartung“, die über spezifische Situationen und Personen hinweg gilt. Diese Erwartung beinhaltet die Annahme, dass Personen und Organisationen ihre Zusagen einhalten, dass sie sich an Vereinbarungen und allgemeine Verhaltensnormen halten, auch wenn es für sie mit Aufwand oder Nachteilen verbunden ist und das auch, wenn sie die Möglichkeit hätten, anders zu handeln.
Rotter hat viele ergänzende Fragen untersucht. So etwa, ob vertrauensvolle Menschen einfach naiv oder weniger intelligent sind, was nicht bestätigt werden konnte.
Interessant ist, dass in einer groß angelegten Simulationsstudie von Robert Axelrod zur erfolgreichsten Strategie im Gefangenendilemma sich „TIT for TAT“ durchgesetzt hat. Diese Strategie besteht einfach darin, zunächst immer zu kooperieren, also zu vertrauen und danach immer das zu tun, was das Gegenüber getan hat.
Vertrauensvoll zu sein, ähnelt dem Konzept der Unschuldsvermutung: Vertrauensvolle Menschen gehen davon aus, dass sie vertrauen können, solange bis diese Annahme widerlegt wird. Ähnlich ist ja auch der Vertrauensgrundsatz in der Straßenverkehrsordnung angelegt. Nicht vertrauensvolle Menschen hingegen hegen einen Generalverdacht, rechnen a priori damit, dass sie nicht vertrauen können.
Es würde in diesem Kontext zu weit führen, auf die psychologische und spieltheoretische Forschung zum Thema Vertrauen näher einzugehen. Ich habe in einer Seminarunterlage meine Schlussfolgerungen für die berufliche Praxis ausführlich beschrieben.
Vertrauen ist ein mehrdimensionales Konstrukt
Ich finde es wichtig, zwei Arten von Vertrauen zu unterscheiden. In Analogie zum Kommunikationsmodell von Watzlawick, das Sach- und Beziehungsebene unterscheidet, sind dies:
- Vertrauen auf der Beziehungsebene: Das ist meist gemeint, wenn man im Alltag von Vertrauen spricht. Man schreibt anderen Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Fairness etc. zu (oder eben nicht).
- Vertrauen auf der Sachebene: Traue ich jemand eine Leistung zu (Arzt, Pilot, ProjektleiterIn oder Teammitglied, Berater, …).
Die Hochseilakrobaten im Titelbild dieses Beitrages geben uns ein gutes Beispiel: Der fliegende Akrobat muss darauf vertrauen, dass der Fänger ihm nichts Böses will. Das ist aber sehr selten das Problem, nicht einmal in Krimis. Kritisch ist das Vertrauen auf der Sachebene, ob der Fänger also generell und gerade jetzt in der Verfassung ist, ihn zuverlässig aufzufangen, auch wenn die Flugbahn nicht ideal verläuft. Genau so ist es auch in Projektteams: Man benötigt Sachkompetenz und persönliche Integrität.
Während in vielen Organisationen die Sachkompetenz als Auswahlkriterium für Mitarbeiter*innen überbewertet wurde, beobachte ich in den letzten Jahren eine Übertreibung in die andere Richtung: die Teamfähigkeit, das Mindset wird so stark betont, als könnte jemand mit hoher Motivation jede Aufgabe erfüllen. Das ist – leider – nicht der Fall. Auch ein Team von „netten“ und hoch motivierten Leuten kann ein Projekt in den Sand setzen.
Warum ist Vertrauen gerade in agilen Projekten so wichtig?
Nach meiner Erfahrung ist das Vertrauen in die Angemessenheit der Aufwände des Realisierungspartners ein entscheidender Erfolgsfaktor. Das Aushandeln des Verzichts auf Features, um das Budget und den Endtermin zu halten, funktioniert nur, wenn die vom Auftragnehmer geschätzten Realisierungsaufwände vom Auftraggeber als angemessen und nachvollziehbar gesehen werden.
Als überhöht empfundene Aufwände können auf unklare Vorgaben, mangelhafte Mitwirkungsleistungen des Auftraggebers, Schnittstellenprobleme etc. zurückzuführen sein und sind in Wirklichkeit daher angemessen. In der Praxis werden diese allerdings meist als Indikator für eine unfaire Preisgestaltung des Auftragnehmers interpretiert und belasten das Vertrauen auf der Beziehungsebene. Konflikte, gegenseitige Vorwürfe und Schuldzuweisungen sind die Folge und eine Negativspirale wird in Gang gesetzt.
Aber auch das Vertrauen auf der Sachebene ist für eine positive Zusammenarbeit in agilen Projekten wichtig. Entsteht der Eindruck, dass Mehraufwände durch ungenügend qualifizierte Mitarbeiter*innen, mangelhafte Projektsteuerung und Koordination entstehen, leidet auch dadurch die Effizienz der Projektarbeit.
Wenn die Voraussetzungen für einen Werkvertrag mit Fixpreis gegeben sind, spielt Vertrauen keine so große Rolle. Durch das Einholen von mehreren Angeboten kann die Angemessenheit des Preises hinreichend abgesichert werden. Durch die Vereinbarung des Fixpreises und zusätzlich durch Pönalen, einen Haftrücklass und andere vertragliche Vereinbarungen kann sich der Auftraggeber relativ gut gegen unliebsame Überraschungen absichern.
Ein agiles Projekt mit einem nur grob beschriebenen Leistungsinhalt und Leistungsumfang eignet sich aber nicht für das Einholen von belastbaren Vergleichsangeboten. Letztlich muss nach Aufwand abgerechnet werden. Auch der „Agile Festpreis“ ist bei genauem Hinsehen eine Abrechnung nach Time&Material mit einer Reihe von Kontroll- und Korrekturmechanismen.
Vertrauen kann durch nichts ersetzt werden
Bei der Auswahl von Lösungsangeboten, in der Regel ist das eine Kombination von Produkten und Dienstleistungen, wird meiner Erfahrung nach leicht bewertbaren Kriterien zu großes Gewicht zugestanden. In öffentlichen Ausschreibungen erfolgt das allein schon als Absicherung gegen Einsprüche der unterlegenen Bieter, die bei „weichen“ Faktoren wie z.B. „Vertrauenswürdigkeit“ mit hoher Erfolgswahrscheinlichkeit die Zuschlagsentscheidung bekämpfen könnten.
Gerne bewertet man eine Präsentation oder führt Assessments für Teams durch. Solche Momentaufnahmen sind an sich schon wenig aussagekräftig. Zusätzlich sind diese dadurch verfälscht, dass die besten Leute in diesen Phasen eingesetzt werden, diese aber während des Projektverlaufes nicht mehr oder jedenfalls nicht im erwarteten Ausmaß präsent sind.
Für den Erfolg ist aber entscheidend, dass der Auftraggeber dem Auftragnehmer sowohl auf der Sach- als auch auf der Beziehungsebene vertraut. Das nicht nur bei Auftragserteilung, sondern über die gesamte Dauer eines Projektes und gerade bei auftretenden Problemen.
Wie schafft man Vertrauen?
Ob andere Personen vertrauensvoll sind und ob wir ihnen vertrauen können, entzieht sich weitgehend unserem Einfluss. Vertrauensbildung muss daher beim eigenen Verhalten ansetzen. Wenn ich als Projektleiter*in meinen Teammitgliedern vertraue, ihnen etwas zutraue, meine Zusagen halte und generell nach dem Motto „Walk your Talk“ lebe, hat das positive Auswirkungen auf das Vertrauensniveau im Team. Der Erfolg ist nicht garantiert, aber ohne dieses Investment gibt es jedenfalls keinen Erfolg.
Um auch das Vertrauen auf der Sachebene zu fördern, ist es wichtig, dass die richtigen Skills im Team vertreten sind und die Teammitglieder so eingesetzt werden, dass sie eine realistische Chance haben, ihre Aufgaben zu bewältigen. Anspruchsvolle Aufgaben können aber nicht ohne Fehler bewältigt werden. Der Umgang mit Fehlern, die „Fehlerkultur“ ist einer der wirkungsvollsten Hebel für den Aufbau von Vertrauen in beiden Dimensionen. Was eine solche förderliche Kultur ausmacht, hat Gerhard Zeiler, der frühere Chef des ORF und der RTL Group, nun Präsident von Turner International, auf den Punkt gebracht: „Der Sieg gehört dem Team, die Niederlage gehört dem Chef.“ Seine Erfolge zeigen, dass mit diesem Zugang alle gewinnen.
Vertrauen ist generell ein Produktivitätsfaktor
Vertrauen macht nicht nur Projektarbeit erfolgreicher. Untersuchungen auf volkswirtschaftlicher Ebene deuten darauf hin, dass ein höheres Niveau an Vertrauen sich günstig auf den Wohlstand einer Nation auswirkt. Für alle, die es genauer wissen wollen, hier der Link zu einer Studie von Forschern des MIT.